Leseprobe

Auf meiner Reise mit der transsibirischen Eisenbahn zum Baikalsee, um nach dem verschollenen Grab Ellaks, des Schwestersohnes des Hunnenkönigs Attila, zu suchen, verursachte ein Maschinenschaden der Lokomotive einen ungeplanten Zwischenaufenthalt in Nischnij Nowgorod. Zunächst mussten alle Reisenden mehrere Stunden im stehenden Zug warten, da der Zugführer erklärte, der Schaden würde schnell behoben; als wir zu murren anfingen, weil die Heizung ausgefallen war, wurde uns mitgeteilt, dass die Reparatur bedauerlicherweise doch nicht an Ort und Stelle durchgeführt werden könne, eine Ersatzlokomotive müsse eingesetzt werden, sie sei angefordert, doch sie träfe erst am nächsten Tag aus Kasan ein. Wir erhielten Quartiere in der Stadt und wurden mit Bussen zu verschiedenen Hotels gefahren. Da meine Unterkunft ein Hotel in der Nähe der alten Jahrmarktskathedrale war, erlebte ich eine lange, verwirrende Busfahrt durch die engen, schluchtenähnlichen Straßen, die die zerklüftete Oberstadt von Nischnij Nowgorod mit der Unterstadt an der Mündung der Oka verbinden.

Nachdem ich meinen Koffer ausgepackt hatte, streifte ich ziellos durch die Unterstadt und gelangte auf eine Brücke, von der man das andere Ufer der Wolga und das monströse, turmhohe Denkmal für Zuckertort, Gorki und Wasjukov sehen konnte. Während ich über die vielen Städte nachdachte, die im Lauf der Geschichte ihren Namen aus nichtigen Gründen mehrmals ändern mussten, schlenderte ich am anderen Ufer der Oka weiter und geriet in einen entlegenen Stadtteil mit heruntergekommenen Häusern, bis mir plötzlich in einer Seitengasse ein Hinweisschild mit der Inschrift „Heim für vergessliche Hunde“ auffiel. Ich ging weiter und stand bald vor dem Tor eines großen hölzernen Gebäudes. Neugier trieb mich, einzutreten. Die Eingangshalle war leer. Suchend ging ich von Tür zu Tür, bis mir ein Mann entgegentrat, der sich als Ilja Iljitsch Myschkin, Direktor des Tierheims, vorstellte. Er war von mittlerer Größe, hatte eingefallene Wangen und einen  schwermütigen Blick. Nach einer freundlichen Begrüßung fing er sogleich an zu klagen: „Nur wenige Besucher kommen in unser Heim, um sich einen Hund auszusuchen. Woran haben Sie gedacht? Wir haben hier sechshundertsechsundsechzig Hunde aller Rassen und Mischungen, große und kleine, junge und alte, dünne und dicke, schwarze und gefleckte, ängstliche und mutige, treue und hinterhältige.“

Aufmerksam und erwartungsvoll blickte er mich an. Nun hatte ich, wie der Leser aus meinem Einleitungssatz entnehmen kann, nicht die Absicht, mir einen Hund anzuschaffen und ihn auf die lange Eisenbahnfahrt mitzunehmen. Doch aus einer Laune heraus fragte ich Ilja Iljitsch: „Lieber Herr Direktor, hätten Sie denn auch ein besonderes Exemplar?“

„Ein besonderes Exemplar? Jeder Hund hat seine eigene Persönlichkeit und … Hm, suchen Sie ein Tier mit besonderen Fähigkeiten? Ich habe da einen deutschen Schäferhund, der lange als Blindenhund gearbeitet hat, aber sein letzter Herr ist auf tragische Weise ums Leben gekommen, so kam er in unser Heim.“

„Ich mag keine deutschen Schäferhunde“, antwortete ich, „diese Hunde mit ihren kurzen Hinterläufen, dem abfallenden Rücken, dem Kopf, den sie stets schief halten und dabei ihren Herrn treu ansehen, sind eine Fehlzüchtung.“

„Aber Sie vergessen, mein Herr“, sagte der Direktor mit etwas erregter Stimme, „Sie vergessen, dass wir hier ein Heim für vergessliche Hunde haben.“

„Ich verstehe nicht ...“

„Also, es verhält sich so: Dieser Schäferhund behauptet, sprechen zu können. Aber wenn er anfängt, seine Geschichte zu berichten, bricht er nach einiger Zeit ab, dreht sich im Kreis, versucht, seinen Schwanz zu ergreifen, und jammert, er habe seine Geschichte vergessen.“

„Das ist wirklich höchst merkwürdig, können Sie mir das Tier zeigen?“

„Aber mit Vergnügen.“

Der Direktor rieb sich die Hände, kramte in einer Schublade seines Schreibtischs nach einem großen Schlüsselbund und führte mich zu den Zwingern. Den Lärm, den sechshundertsechsundsechzig Hunde – oder zumindest der größte Teil von ihnen – machten, brauche ich nicht zu beschreiben. Zielstrebig ging der Direktor zu einem Seitenflügel, in dem es stiller war. Schließlich zeigte er mir den Hund, den er meinte.

Der Hund, auf den er deutete, entsprach nicht meinen Erwartungen von einem deutschen Schäferhund, er war viel größer, stand auf langen Läufen, sein Fell war mehr grau als braun, und er hatte nicht den treuherzigen hündischen Blick auf schiefem Hals. Kurz, er sah eher aus wie ein Wolf.

Der Direktor öffnete seinen Mund, um etwas zu sagen, als in diesem Augenblick ein Klingelton zu vernehmen war. Ilja Iljitsch Myschkin seufzte, griff in eine Jackentasche, holte ein tragbares Telefon heraus und sprach hinein. Kurz danach sagte er zu mir, er müsse mich leider allein lassen, die Geschäfte erforderten seine Anwesenheit beim Bürgermeister. Aber er sei sicher, dass ich in der Lage wäre, mit dem Hund ein Gespräch zu beginnen. Er wünschte mir viel Glück und verschwand.

Ich betrachtete das Tier, es sah mir in die Augen und dachte nicht daran, den Blick zu senken.

„Du bist kein Schäferhund“, sagte ich schließlich.

„Das stimmt, ich bin ein Wolf.“

„Wie kommt ein Wolf zu einem braungetönten Fell?“

„Lange streifte ich unbehelligt durch die Regionen Europas. Als die Menschen begannen, die Wölfe zu verfemen, zu jagen und planmäßig auszurotten, als sie die Märchen erfanden, in denen wir die Übeltäter sind, die die Großmütter auffressen und die Mädchen entjungfern, zog ich mich in die Wälder des Ural zurück. Schließlich hatte ich den in der Not geborenen Einfall, mich als Blindenhund zu verdingen. Dazu brauchte ich Ähnlichkeit mit einem Schäferhund und ließ mein Fell färben. Aber inzwischen schimmert, wie Sie wohl sehen, das alte Eisgrau wieder durch.“

„Hast du einen Namen?“

„Ich hatte viele Namen in meinem langen Leben. Vor langer Zeit nannte mich einmal ein Mädchen zärtlich Graufell.“

Er stockte, schien zu träumen. Verblüfft stellte ich fest, dass ich tatsächlich mit dem Tier gesprochen hatte. Oder hatte ich nur seine Gedanken vernommen? Bevor ich darüber nachdenken konnte, redete der Wolf weiter: „Woher kommen Sie, mein Herr, wenn ich fragen darf?“

„Aus Deutschland.“

„Ah, aus Germanien. Ich kenne es und habe es früher oft durchstreift.“

„In der Nähe von Worms bin ich aufgewachsen ...“

„...der Stadt der Nibelungen ...“

„...aber meine Vorfahren stammen aus Norwegen.“

Der Wolf, der bisher fast reglos hinter dem Maschendraht seines Käfigs gestanden hatte, begann, nervös im Kreis zu laufen. Jetzt bemerkte ich, dass das Leben seine Merkzeichen mit einem spitzen Griffel in das Fell des Tieres geschrieben hatte. Unterhalb des rechten Auges begann eine lange Narbe, die sich fast bis zu den Lefzen zog, das linke Ohr war kürzer als das rechte, die Spitze fehlte, und eine weitere Narbe auf der Brust des Wolfes war nicht zu übersehen. 

„Norwegen? Da war ich auch --- oft sogar. Und aus welcher Gegend in Norwegen?“

„Aus Trondheim.“

„Aus Nidaros!“

„Ja, so nannte man früher die Gegend.“

Ich begann, mich über die altertümlichen Begriffe, die der Wolf verwendete, zu wundern. Doch er unterbrach meine Gedankengänge und fragte mit seiner gepresst kehligen Stimme: „Was hat Sie in diese gottverdammte russische Stadt mit dem scheußlichsten aller scheußlichen Denkmäler verschlagen?“

„Ich bin nur auf der Durchreise, ich wollte zum Baikalsee, ein Maschinenschaden hält mich hier fest.“

„Wollen Sie an dem See Urlaub machen?“

„Nein, ich …“, ich zögerte, ich wollte dem Wolf nicht den wahren Grund meiner Reise nennen. Ich war von der Idee besessen, das unbekannte Grab Attilas zu finden. In einem Alter, in dem andere Jungen mit ihren Eisenbahnen spielen und Lokomotivführer werden wollen, hatte mich der Bazillus gepackt, Schatzgräber zu werden. Krankheitsauslöser waren ein Buch über Heinrich Schliemann und seine Ausgrabungen in Troja gewesen, Cerams Geschichten, die ich im Bücherschrank meines Vaters fand, und ein Buch über Atlantis, in dem behauptet wurde, die Azoren seien die Reste jenes sagenumwobenen Reiches, verstärkten die Sucht. Aber was sollte ich ausgraben? Das fehlende Ziel und die einsetzende Pubertät brachten meine Krankheit zum Erliegen, bis ich - Jahre später - in einem lexikalischen Eintrag zur Geschichte der Hunnen über den Hinweis stolperte, Attilas Grab sei niemals entdeckt worden. Von nun an opferte ich meine Freizeit, meinen Urlaub und mein Geld der neu erwachten Sucht, recherchierte und reiste zu entlegenen Plätzen. Meiner Frau hatte ich mich seit langem entfremdet, und meinen in der Leidenschaft der ersten Ehejahre gezeugten Kinder wurde ich ein liebloser Vater.

So sagte ich nach einer Weile: „Ich suche nach dem verschollenen Grab des Fürsten Ellak, er soll der Schwestersohn des Hunnenkönigs Attila gewesen sein.“

„Wer hat Ihnen denn diesen Bären aufgebunden? Ellak war Attilas ältester Sohn.“

„Wieso, woher …?“ Verwirrt starrte ich den Wolf an.

„Ich bin ihm einmal begegnet, auch Attila habe ich noch kurz vor seinem Tod gesehen, ich kenne sogar sein Grab.“ 

Sprachlos stand ich vor dem Gitter und dachte über die absurden Behauptungen des Tieres nach. Während ich noch nach Worten für eine Antwort suchte, vernahm ich erneut die Stimme des Wolfs: „Hätten Sie Lust, eine Geschichte zu hören, die in Worms und teilweise in Nidaros spielt? Eine Geschichte, in der auch Attila vorkommt?“

„Warum nicht?“ sagte ich vorsichtig, „Mein Zug fährt erst morgen weiter.“

„Aber ich warne Sie, es wird eine lange Geschichte. Es ist die Geschichte von einem sehr schönen Mädchen in einer rauen Zeit, es ist die Geschichte von dem Mädchen, das mich Graufell nannte.“

„Fang einfach an.“

„Aber vorher muss ich noch eine zweite Warnung aussprechen: Sie sind hier im Asyl für vergessliche Hunde, und ich bin hierher gebracht worden, weil ich vergesslich bin. Es kann also geschehen, dass ich etwas zweimal erzähle, weil ich vergessen habe, dass ich über das Ereignis schon gesprochen habe. Sollte dieser Fall eintreten, können Sie mich am Schwanz ziehen. Außerdem kann es passieren, dass ich wie eine Schallplatte, die einen Kratzer hat, mit meiner Geschichte hängenbleibe und beginne, sinnlose Aufzählungen zu machen. Auch dann können Sie mich am Schwanz ziehen.“

„Wie soll ich dich am Schwanz ziehen, solange er sich hinter dem Gitter befindet?“

„Ich werde ihn gleich heraushängen. Aber noch etwas: Wenn man mich unterbricht, während ich erzähle, vergesse ich, was ich sagen wollte. Also unterbrechen Sie mich besser nicht und heben Ihre Fragen, sollten Sie welche haben, bis zum Ende auf.“

Ich versprach, ihn nicht zu unterbrechen, und setzte mich auf den Boden, der graue Wolf streckte sich aus, vergaß, seinen Schwanz herauszuhängen, legte stattdessen seine Vorderpfoten übereinander und begann:

 

Unter dunklem Himmel lag die Stadt verfallen und verlassen am Strom …